Musik

Wir bauen uns eine Stadt

dream city panorama

„Dream City“ sieht ein bisschen so aus, als hätte man ein Stück Kulisse aus „Mad Max“ kurzerhand nach Dänemark verfrachtet. Es ist staubig, sehr staubig. Überall Müll und verdreckte Zelte. Kostümierte Gestalten mit Staubmasken flanieren über das Gelände. Dream City, so nennen die 130.000 Festivalbesucher des Roskilde-Festivals einen Camping-Bereich, in dem vieles möglich ist. Ein Rathaus gibt es da, ein Postamt, ein Themencamp, angelehnt an „Good Morning Vietnam“. Und am Donnerstagnachmittag versammeln sich alle um einen Parcours und zücken ihre Handy-Kameras. Der Nacktlauf steht an.

Der Hippie-Spirit ist mit der Geschichte des Roskilde-Festivals fest verwurzelt. 1971 haben ein paar dänische Schulfreunde das Festival nach dem Vorbild von Woodstock und Isle Of Wight zum ersten Mal veranstaltet. 10.000 Besucher kamen damals in die Stadt 30 Kilometer westlich von Kopenhagen. Doch vor lauter Happy Vibes vergaẞen die Macher das Wirtschaften und verbrannten Geld ohne Ende. Auftritt Roskilde Charity Society. Die kulturpolitische Initiative der Stadt nahm die Zügel ab dem zweiten Jahr in die Hand und hat das Festival zu einem der gröẞten Europas aufgebaut.

Alles für den guten Zweck

Der große Unterschied zu vergleichbaren Massenevents ist der Non-Profit-Gedanke. Obwohl das Festival mittlerweile stattliche Summen abwirft (und auch seinen Besuchern abverlangt: Tickets kosten 280 Euro), wollen die Macher nach wie vor kein Geld verdienen. Der Gewinn – jährlich zwischen zweieinhalb und drei Millionen Euro –  geht als Spende an Organisationen wie Amnesty International oder Ärzte ohne Grenzen. Aber auch an kleinere kulturelle Aktionen, Festivals oder Plattenläden, wie etwa Groove City in Hamburg.

„In Läden wie Groove City haben wir uns viel Inspiration für das Festival geholt, deswegen möchten wir gerne etwas zurückgeben. Wenn wir eine Festivalstadt mit 130.000 Menschen bauen, dann nehmen wir viel in Anspruch. Und dann ist es privilegiert, ein Stück zurückzugeben.“ – Pressesprecher Martin Frederiksen

Möglich gemacht wird diese Festival-Philosophie in erster Linie nicht von den rund 50 festangestellten Mitarbeitern, sondern von einer Armee aus freiwilligen Helfern. 30.000 Ehrenamtliche sorgen für einen reibungslosen Ablauf. Und nicht nur das. Im Bühnengraben stehen dann eben nicht grimmige Security-Menschen, sondern junge Festivalgäste in orangefarbenen Westen, die freudestrahlend Wasserbecher ins Publikum reichen. Und dass einem vom Einlass bis zum Bierstand regelmäẞig jemand ein schönes Festival wünscht, ist auch nicht gerade selbstverständlich.

Das Orange-Feeling

“Unsere Gäste nennen es das Orange-Feeling”, gibt Pressesprecher Martin Frederiksen stolz zu Protokoll, eine Anlehnung an die Farbe der Hauptbühne. Und zu diesem Feeling gehört laut ihm vor allem die Vielfalt. Musikalisch sieht das dann so aus: Die Kids bouncen zu Eminem und Bruno Mars, die Älteren hängen Nick Cave und Massive Attack an den Lippen. Ein großer Spaß für die ganze Familie.

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Eminem spielt in Roskilde seine Klassiker oft nur kurz an. Ein Vers, ein Refrain, nächster Track. Ein Eingeständnis an die Generation der kurzen Aufmerksamkeitsspanne?

Foto: Jeremy Deputat

Genre-Bühnen gibt es in Roskilde nicht. Stilistisch wird hier bis in die kleinsten Nischen so ziemlich alles bedient. Japanischer Tropical New Wave Noise? Check. Ostafrikanischer Hochzeits-Rave? Warum nicht? Und irgendwo inmitten der circa 180 auftretenden Acts, entdeckt man immer wieder kleine, teils völlig abwegige Juwelen.

Da ist die brasilianische Sängerin Dona Onete, die im Alter von 73 Jahren ihr Debütalbum rausgebracht hat und nun in Abendgarderobe auf einem Sessel am Bühnenrand sitzend zusammen mit ihrer Band zappelige Cambrio-Nummern schmettert und ihre Ansagen konsequent auf Portugiesisch macht. Das versteht kein Mensch, aber weil sie dabei Kusshände und Blumen ins Publikum wirft, ist eh allen klar, was hier Sache ist.

Am nächsten Tag spielt die dänische Elektropopkünstlerin Lydmor in einem viel zu heiẞen, viel zu stickigen Zelt. Eine runde Bühne in der Mitte, an den Rändern nackte, mit Bodypainting übersäte Tänzer, die im Schwarzlicht neonfarben strahlen. Das Publikum tanzt staunend drumherum und lässt mitunter selbst die Hüllen fallen. Ekstase um 13 Uhr.

Die Sache mit der Gleichberechtigung

So bunt diese kleinen und groẞen Festival-Momente auch sein mögen, die Headliner sind dann doch zumindest in einem Belang etwas gleichförmig, will sagen: männlich. Man sei sich dessen bewusst, sagt ein Booker des Festivals, und unterstütze Initiativen wie Keychange, die mehr Frauen auf die Bühnen holen wollen. Doch bei einem Markt mit überschaubarer Anzahl weiblicher Headliner-Acts, müsse man an anderer Stelle ansetzen und zunächst einmal mehr Frauen zum Musik machen ermutigen. Immerhin: auch auf dieser Ebene greift Roskilde diversen Projekten unter die Arme.

Quelle: eigene Auszählung

Dass die Macher es ernst meinen mit ihrem Engagement, sieht man einen Steinwurf vom Festivalgelände entfernt. Auf dem Gelände eines ehemaligen Betonwerks entsteht hier seit 2008 ein Kulturviertel. „Musicon“ ist so groß wie 40 Fußballfelder und beherbergt unter anderem Proberäume, ein Rock- und Pop-Museum, eine Skatehalle und Kunstateliers. Derzeit entsteht dort eine Festival-Hochschule.

Das gesellschaftspolitische Denken hat auch auf dem Festivalgelände seinen Platz. In der Artzone gibt es Skulpturen, Installationen und Performances. Blickfang sind in diesem Jahr die „Equality Walls“. Vier meterhohe Mauerstücke, die eins zu eins den Prototypen nachempfunden sind, welche Trump zwischen den USA und Mexiko errichten ließ.

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Im Programm geht der Diskurs dann weiter, bei einem Talk mit US-Whistleblowerin Chelsea Manning, die 2010 Wikileaks geheime Militärakten zuspielte und dafür zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde, bevor sie Barack Obama nach sieben verbüßten Jahren mit einer seiner letzten Amtshandlungen begnadigte. Vom Publikum wird Chelsea Manning wie ein Rockstar gefeiert. Sie spricht über künstliche Intelligenz. Über Algorithmen, die mit immer größeren Datensätzen gefüttert werden und so immer mehr Teil unseres alltäglichen Lebens werden, vom Gesundheitswesen über Online-Banking bis zur polizeilichen Überwachung. Manning sagt: Algorithmen verstärken Vorurteile, die es gegenüber bestimmen Menschengruppen ohnehin schon gibt. Man brauche ethische Standards und Entwickler seien in der Verantwortung zu sagen: „Dieser Code kann Menschen schaden, also werde ich ihn nicht programmieren.

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Chelsea Manning
Macht sich beim Roskilde-Festival Gedanken über intelligente Algorithmen und verkündet, dass sie wieder als Programmiererin arbeitet – Chelsea Manning

Foto: Steffen Joergensen

Chelsea Manning ist nicht die erste schillernde Persönlichkeit, mit der das Roskilde-Festival die Aktivismus-Fahne hochhält. Pussy Riot und Edward Snowden (per Skype) gaben sich hier auch schon die Ehre. Pressesprecher Martin Frederiksen will sich aber nicht in eine politische Ecke drängen lassen und pocht darauf, dass man etwa auch konservative Politiker zu Diskussionsrunden eingeladen habe.

„Wir möchten aktivistisch sein, aber nicht parteipolitisch. Wir haben keinen Bock zu sagen: So musst du denken, so musst du sein und so musst du fühlen. Es ist wichtiger, Reflexion anzubieten. Gefühle und Gedanken. Und dann kann man vielleicht sagen, was sich richtig oder falsch anfühlt.“

Der gläserne Festivalbesucher

Was sich auf dem Roskilde-Festival erst einmal furchtbar praktisch anfühlt, ist das ausnahmslos bargeldlose Bezahlen. Die Kreditkarte ist das Einfallstor zu einer Schlemmerwelt aus Zimtschnecken, Flæskesteg (ein Sandwich mit Schweinebraten und Rotkohl) und allerhand vegetarischen und veganen Köstlichkeiten, bis hin zum Insektenburger, angeblich alles zu 90 Prozent Bio. Und, na klar, zu jeder Menge Alkohol. Wer nicht mehr weiß, wie viel Bier, Cocktails und Shots er in Roskilde gebechert hat, kann ja mal bei seiner Bank nachfragen. Was die wohl vom Alkoholkonsum hält, wenn es irgendwann um Kredite oder zu bauende Häuser geht? Das Festival bietet zwar auch eine aufladbare Geldkarte an, genutzt wird die aber – vermutlich aus Bequemlichkeitsgründen – nur marginal.

Legendäre Momente

Als die Gorillaz am Samstag auf der Hauptbühne spielen, kommt es zu einem unglücklichen Zwischenfall. Der Rapper Del tha Funkee Homosapien stürzt während seines Auftritts von der Bühne. Konzertabbruch. Wenig später gibt es die Entwarnung.  „He’s gonna be okay“, sagt Sänger Damon Albarn, den sie hier über alles lieben. Vor ein paar Jahren musste ihn der Tourmanager von der Bühne tragen, weil er nicht mehr aufhören wollte zu spielen.

Legendär sind in Roskilde nicht nur die Auftritte mancher Bands, sondern auch die Campingplatz-Partys. Der Anblick des zugemüllten Wasteland rund um Dream City bei Tageslicht lässt nur vermuten, was sich hier abspielt. Umweltverträglich kann das beim besten Willen nicht sein. Zumal die schlechte Angewohnheit, sein Zelt nach dem Festival zurückzulassen längst auch in Roskilde Einzug gehalten hat. Die Macher kämpfen dagegen an, haben einen Nachhaltigkeitsplan, geben Zelte an Migranten weiter und sorgen sich um das Recycling von Plastikabfällen. Immerhin ein Drittel aller Camper wohnt dieses Jahr in den so genannten „Clean Areas“, für die man sich bewerben musste und wo man selbst für Sauberkeit verantwortlich ist.

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Kulturbiotop Roskilde

Das Roskilde-Festival ist für kurze Zeit Dänemarks viertgrößte Stadt. Ein Utopia für verschiedenste Lebensentwürfe, Genres und Altersstufen. Ein Ort, an dem man feiert wie im Rausch und gleichzeitig nachdenkt über die großen Fragen, die unsere Gesellschaft gerade umtreiben. Eine Kulturbiotop, das nachhaltig vor sich hinwuchert, auch nachdem die 130.000 Besucher in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Hier und da gibt es dunkle Gassen, das gehört zum Stadtsein wohl dazu. Was bleibt, ist der Eindruck einer über die Jahre gewachsenen Gemeinschaft, die ein unglaublich respektvolles Miteinander pflegt. Das mag die skandinavische Freundlichkeit sein. Oder die Festival-Blase, in der sich alle glückselig bewegen. Schade jedenfalls, dass man hier nur auf Zeit wohnen kann.